“Dass wir uns mit unserer Psyche auseinandersetzen, ist ein Luxus”
Kinder aus benachteiligten Familien leiden doppelt so häufig an ADHS wie Gleichaltrige aus bessergestellten Familien. Olivier David analysiert anhand eigener Erfahrungen den Zusammenhang von Armut und psychischer Krankheit.
Interview mit Olivier David
In Deutschland leben 2,8 Millionen Kinder in Armut. Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Familien leiden doppelt so häufig an ADHS wie Gleichaltrige aus bessergestellten Familien. Olivier David, 33 Jahre alt, freier Journalist und Autor, wuchs selbst in prekären Verhältnissen und mit ADHS auf. Wie hängen Armut und psychische Krankheit zusammen? Und was erzählen tausende Fahrräder darüber, wer die Verhältnisse verantwortet?
Wie würdest du anhand deiner Erfahrung den Zusammenhang von Armut und psychischer Krankheit beschreiben?
Olivier David: Armut bedeutet oftmals einem höheren Stresslevel ausgeliefert zu sein. Das Leben ist zwar für jede*n anstrengend, unabhängig von ökonomischen Fragen, aber wenn du noch zusätzlich Fragestellungen hast, die nur arme Menschen betreffen, ist das besonders erschöpfend.
Was sind das für Fragestellungen?
Olivier: Das kann die Frage sein: Kann ich einen Antrag auf Wohngeld schreiben? Oder: Die Miete wird erhöht, wie soll ich das bezahlen? In Deutschland hat jeder dritte Mensch keine Rücklagen gebildet. Als die Waschmaschine meiner Familie kaputt ging, fehlte uns das Geld, um eine neue zu kaufen. Meine Mutter musste einen Antrag schreiben, damit das Amt uns eine bezahlt. Da ist es aber häufig mit einem Brief nicht getan und du lebst bis zum Bescheid in ständiger Unsicherheit. Gleichzeitig gibst du in jede Woche zehn Euro aus, um die Wäsche zu waschen, so dass du kein Geld sparen kannst, um dir selbst eine neue Waschmaschine zu kaufen.
Eins von fünf Kindern wächst heute in prekären Verhältnissen auf. Die anderen vier wissen womöglich nicht, was das bedeutet. Kann man es ihnen erklären?
Olivier: Für Kinder ist Armut ein abstrakter Begriff. Sie wissen vielleicht, dass es ein Wort gibt, das Armut heißt, aber nicht, dass als eigenes Scheitern wahrgenommene Verhaltensweisen einen theoretischen Unterbau haben. Sie verstehen nicht, dass Armut ein systemisches Problem ist.
Wie bist du aufgewachsen?
Olivier: Ich bin auf eine private Waldorfschule gegangen, die sehr viele wohlhabende Kinder besuchen. Manche sind reich. Da merkst du als Kind, dass die anders aufwachsen. Aber man kann das nicht ins Verhältnis setzen. Du schämst dich in vielen Situationen, weil sich der soziale Raum fremd anfühlt oder du Dinge nicht machen kannst, die andere Kinder machen. Meine Mutter bekam Arbeitslosengeld und war alleinerziehend seitdem ich acht Jahre bin. Als meine Eltern sich trennten, ging mein Vater erst für ein paar Monate nach Paris und wanderte dann nach Asien aus.
Haben deine Mitschüler*innen das wahrgenommen?
Olivier: Mitschüler*innen von damals hatten vielleicht das Gefühl, dass ich der andere war. Aber ich bin ja auch nicht zu denen hingegangen und hab ihnen erzählt, dass meine Mutter gestern auf dem Kühlschrank saß und geheult hat, weil sie nicht wusste, wovon sie einkaufen soll. Oder woher meine Wutausbrüche kamen.
Du schreibst Armut habe einen eigenen Klang. Was meinst du damit?
Olivier: Ich habe oft auf engem Raum oder an lauten Straßen gelebt. Die Wände der Wohnung waren teilweise so dünn, dass du in deinem Zimmer das Gespräch unterbrechen musst, weil du hörst, wie dein Nachbar im Stehen ins Klo pinkelt. Wenn du die Sprache deiner Nachbar*innen sprichst, kannst du ihren Gesprächen lauschen. Nachts stehst du aufrecht im Bett, weil dich die Polizei aus dem Tiefschlaf weckt, indem sie mit einer Ramme die Tür des Nachbarn einreißt, der als Dealer arbeitet. All das schreibt sich in die Lebensläufe vieler armer Menschen ein. Es ist wahrscheinlicher solche Erfahrungen zu machen, wenn du arm bist, als wenn du einer ökonomisch höheren Klasse angehörst.
Viele Menschen erleben für einen begrenzten Zeitraum so etwas wie Armut, seien es Studierende oder Menschen in Ausbildung. Inwiefern unterscheidet sich das von deinem Erleben?
Olivier: Der Unterschied ist häufig das soziale Hilfenetz. Eltern, die dich unterstützen. Auch zu wissen, dass die Zeit in Prekarität absehbar ist. Wenn du hingegen den Mangel von Anfang an kennst und damit aufwächst, fällst du viel tiefer, weil dir Wissen und Handwerkszeug fehlen, um mit deinen Problemen umzugehen. Du schämst dich, dir Hilfe zu suchen. Kleinigkeiten, wie Rechnungen oder Amtsschreiben, lassen mich teilweise heute noch apathisch werden.
Inwiefern gibt es noch andere Faktoren, für den Zusammenhang von Armut und psychischer Gesundheit?
Olivier: Wenn du mit einer Mutter aufwächst, die alleinerziehend ist, erhöht das dein Risiko für eine psychische Erkrankung. Wenn du mit einer Mutter aufwächst, die alleinerziehend ist und Schulden hat, erhöht sich dein Risiko zusätzlich. Wenn du mit einer Mutter aufwächst, die alleinerziehend ist, Schulden hat, eine psychische Erkrankung hat, selber in Armut geboren ist, der zu wenig Handwerkszeug zur Verfügung steht und wenn du dann noch kaum Selbstwirksamkeit erfährst in deinem Aufwachsen, dann reden wir in meinem Lebenslauf von erlernter Hilflosigkeit. Ich habe nicht nur kein Handwerkszeug bekommen, um mir selbst zu helfen. Ganz im Gegenteil. Ich habe destruktives Handwerkszeug bekommen, das verhindert, dass ich mich selbst um mein Schicksal kümmere.
Wie sieht dieses destruktive Handwerkszeug aus?
Olivier: Ich habe früh gelernt, dass Scheitern ein System ist, das von mir erwartet wird und dem entsprochen. Erst im Nachhinein habe ich verstanden, dass das einer der wichtigsten Mechanismen in meinem Leben ist. Wenn meine Eltern mir als Kind nicht zugetraut haben, bestimmte Dinge zu schaffen, habe ich mich dafür entschieden, dass ich sie auch nicht schaffen muss. Wurde in der Schule eine Rechenaufgabe gefragt, war mein Kopf häufig auf einmal leer, selbst wenn ich sie wusste. Ich war dann wütend.
Der Sozialmediziner Gerhard Trabert sagte im Interview mit uns: “Armut macht krank und Krankheit macht arm.” Inwiefern deckt sich diese Beobachtung mit deinen eigenen Erfahrungen?
Olivier: Meine Mutter ist arm aufgewachsen und hat dann durch die Art wie sie aufgewachsen ist, durch Gewalterfahrungen, psychische Erkrankungen bekommen. Erst Anfang 40 hat sie eine Therapie gemacht. Ich war erst arm, bin dann psychisch krank geworden. Aktuell habe ich keine Depressionen mehr, aber leide unter ADHS, das ich nur in den Griff bekomme, wenn ich nicht fest in einer Redaktion arbeite. Dass ich weniger leistungsfähig als andere Menschen bin, sorgt dafür, dass ich andauernd finanziell bedroht bin, denn es wirkt sich auf meine Rente und auf mein Leben aus.
Was hat bei dir schließlich den Ausschlag gegeben, dir Hilfe zu suchen?
Olivier: Bei mir war das derselbe Mechanismus wie bei meiner Mutter. Als sie einen Job gefunden hatte, konnte sie sich wenig später eine Therapie suchen. Ich habe mich durch mein Volontariat und eine neue Beziehung so gesichert gefühlt, dass ich das erste Mal den Raum gespürt habe, Innenschau zu betreiben. Dass wir uns heute mit unserer Psyche auseinandersetzen, meine Familie und ich, ist ein Luxus, den wir uns von unserem Alltag abringen. Das ist eigentlich total paradox. Erst muss es dir besser gehen, damit du dir erlauben kannst, dass es dir schlechter geht.
Was muss sich verändern, dass es Kindern und Jugendlichen, die in einer ähnlichen Situation sind, wie du vor 10 Jahren, besser geht?
Olivier: Zunächst braucht es natürlich Akuthilfe. Hilfsangebote können nicht niedrigschwellig genug sein. Die Frage darf nicht sein, ob ein Angebot grundsätzlich da ist. War ein Jugendzentrum bei mir um die Ecke? Ja. Gab es da Hausaufgabenhilfe? Ja. Die Frage ist, wie erfahre ich davon? Wie gering ist meine Selbstwirksamkeitserfahrung oder die von meiner Mutter, dass wir das Angebot wahrnehmen und in Anspruch nehmen? Ein niedrigschwelliges Angebot sieht so aus, dass Leute von Tür zu Tür ziehen und fragen: “Kommst du mit deinem Alltag klar? Wir helfen dir. Kommt dein Sohn mit seinen Hausaufgaben klar? Wir helfen dir. Wir haben keine Agenda, sind von keiner Partei oder Kirche, wir sind einfach für dich da. Sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst, wir kommen. Alles wird gut.”
Welche Rolle spielt die Politik dabei?
Olivier: Armut ist politisch gewollt. Es gibt kein Interesse, Armut zu überwinden. Unser Wirtschaftssystem muss Ausschlüsse produzieren, um den Wohlstand einiger weniger zu sichern. Wir müssen uns der Frage stellen, wie wir eine gerechte Gesellschaft bauen können. Das geht nur für sukzessive, Stück für Stück. Aber wir täten gut daran, das Gespräch lauter werden zu lassen darüber, welche Kosten Armut produziert, auf persönlicher, wie auf gesellschaftlicher Ebene.
Die Kosten auf persönlicher Ebene hast du deutlich gemacht. Was meinst du mit der gesellschaftlichen Ebene?
Olivier: Da ist Polarisierung das Stichwort. Jedesmal wenn Politiker*innen darüber reden, dass die Gesellschaft auseinander driftet, flippe ich aus. Die Leute in dem Wohnblock, in dem ich aufgewachsen bin, fühlen sich überhaupt keiner Gesellschaft zugehörig. Es gibt einen Grund, warum so viele arme Menschen nicht wählen. Es gibt einen Grund, warum arme Menschen eher an Verschwörungserzählungen glauben. Die Politik spricht sie nicht an. Der Bundestag hat in den letzten Jahrzehnten ökonomische Politik im Sinne der obersten zwanzig Prozent gemacht. Das bedeutet, der Bundestag macht Politik gegen mich und meine Leute. Auch die Ampelregierung zeigt keinen tatsächlichen Willen, Armut zu überwinden. Statt Armut zu bekämpfen, soll sie immer nur ein bisschen weniger schlimm gemacht werden.
Das klingt erstmal sehr einfach.
Olivier: Natürlich ist es komplexer. Aber für mich fühlt es sich nicht falsch an, das so herunterzubrechen. Man nimmt den Staat als armer Mensch als Aggressor wahr, weniger als Sozialstaat. Man nimmt eine Gesellschaft, die einen über klassistische Reflexe abwertet als Gegnerschaft wahr und nicht als unterstützend, wohlwollend oder solidarisch. Die Zeit-Redakteurin Anna Mayr schreibt in Die Elenden über die Funktion von Obdachlosen. Einerseits braucht die Gesellschaft sie, um Menschen zu drohen, dass sie den schlecht bezahlten Job annehmen. Andererseits grenzt du dich durch sie wunderbar nach unten hin ab.
Welche Rolle spielen Medien dabei?
Olivier: Menschen, die aufgewachsen sind wie ich, sind dort absolut unterrepräsentiert. Langsam finden wir mehr statt, aber nicht selten reproduzieren Journalist*innen Stigmata oder glauben Betroffenen nicht. Aufsteiger*innengeschichten sind vielleicht gefragt, aber sie werden immer seltener. Ende der 90er haben sich die Mechanismen so gedreht, dass es viel realistischer ist, dass Leute die Erfahrung von Deprivilegierung machen, als dass sie es vom Tellerwäscher zum Millionär schaffen. Oliver Nachtwey nennt unsere Gesellschaft deswegen Abstiegsgesellschaft. Vielleicht hören wir so gerne Aufstiegsgeschichten, weil sie in der Realität so selten anzutreffen sind, sagt er. Dieser Frage kann ich viel abgewinnen.
Welche Narrative begegnen dir außerdem?
Olivier: Wenn du dir das Standard-Reportage-Format anschaust, wie wir es jede Woche irgendwo sehen, dann gibt es die betroffene Person, den*die Expert*in – in aller Regel den Experten – und den*die Antagonist*in. Der*die Antagonist*in spricht dann von Selbstverantwortung oder sozialer Hängematte und sagt, wenn sich jeder Mensch, so gehen ließe, wo kämen wir dann hin. Die betroffene Person sagt: “Alles ist scheiße. Es reicht nicht zum leben.” Der Experte sagt: “Ja, die Person dürfte sich nicht so hängen lassen, aber ich kann sie schon verstehen.” So in etwa. Allein diese Zusammensetzung entzieht armen Menschen die Deutungshoheit darüber, wie sie dargestellt werden. Hinzu kommt ein strukturelles Ding. Viel zu wenig Menschen mit prekären Hintergründen haben einen Platz im Journalismus. Redaktionen sind noch immer weiß, cis, oft männlich, aber in erster Linie ist dort das Bildungsbürgertum vertreten.
Nun bist du selber Journalist.
Olivier: In meinem Volontariat habe ich über dutzende Fälle vor Gericht geschrieben. In fast allen Fällen steckten die Menschen in Armut. Manchmal saß ich 6 Stunden im Gerichtssaal. Da ist es schwierig den sozialen Kontext einer Messerstecherei in 60 Zeilen reinzuquetschen. Da klingen Straftaten dann eher witzig, wenn du hörst dass eine Person alleine in zwei Jahren ein paar Tausend Fahrräder geklaut hat. Aber wenn du siehst wie der Mensch vor Gericht zusammenbricht und seine Lebensgeschichte erzählt, – dass er obdachlos war, sich durchgeschlagen hat und tausendmal angelaufen ist, um sich aus seinem Schicksal zu befreien – dann ist die Geschichte plötzlich gar nicht mehr witzig. Hat er Gesetze gebrochen? Ja. War er gezwungen so zu handeln? Wahrscheinlich nicht. Wenn wir so die Frage nach der Schuld stellen, haben wir schnell den Schuldigen gefunden. Aber ich will die Frage anders stellen: Was führt zu solchen Entscheidungen? Wenn soziale Verhältnisse Lebensläufe produzieren, die so prekär sind wie in diesem Fall, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass manche Leute eine falsche Abzweigung nehmen.
Du wünschst dir, dass sich Menschen in deinem Schicksal wiederfinden. Warum ist dir “kollektives Bewusstsein” wichtig?
Olivier: Oft sorgt Armut für Rückzug. Die längste Zeit meines Lebens habe ich mich als sehr vereinzelt wahrgenommen und mein Leben als Scheitern verstanden. Dann habe ich begriffen, dass dieses Scheitern weniger individuell ist, als ich geglaubt habe. Wenn sich Leute in Geschichten wie meiner wiederfinden, können wir dieser Vereinzelung etwas entgegensetzen. Es kann unsere Sprecher*innenposition nur stärken, wenn wir aus mehreren Mündern gleichzeitig sprechen und Interessen gegenüber anderen Gesellschaftsklassen artikulieren, die über mehr Ressourcen verfügen. Als arme Menschen können wir uns nicht von der Politik versprechen, dass sie Armut auflöst. Das hätte sie längst machen können. Darum ist es wichtig, dass wir uns empören und organisieren, um Druck auszuüben.
“Keine Aufstiegsgeschichte. Warum Armut psychisch krank macht” von Olivier David erschien im Februar 2022 bei Eden Books.